Sammeln im 18. Jahrhundert – zur Archäologie einer perfekten Sammlung
Sammeln im 18. Jahrhundert – zur Archäologie einer perfekten Sammlung
Von Paris nach Sankt Petersburg, die Gemälde des Comte de Baudouin und die Zarin Katharina II. von Russland
Ziel des Programms ist es, anhand europäischer Fallstudien die soziale Praxis des Kunstsammelns während des langen 18. Jahrhunderts besser zu verstehen. Das Projekt widmet sich zunächst einer sowohl typischen als auch exzeptionellen Sammlung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, einem Modell der idealen Sammlung des Pariser Offiziers und Amateurkünstlers, Sylvain-Raphaël Comte de Baudouin (1715–1797), der seine Gemäldesammlung größtenteils an die Russische Zarin Katharina II. verkaufte, deren »Fieber nach Bildern« sie Baudouins Sammlung als Geschenk an ihren Favoriten Alexander Lanskoï als letzte ihrer Akquisitionen erwerben ließ.
Baudouin praktizierte Kunst als Amateur-Stecher und stellte eine Gemäldesammlung zusammen, die von seinen Zeitgenossen für ihre Perfektion gelobt wurde. Als Verfasser des Kataloges seiner Sammlung ließ er eine Vielzahl seiner Werke vor dem Abtransport nach Russland im Jahr 1784 nachstechen sowie durch Kopien reproduzieren. Die Kaiserin erwarb genau 115 der 118 Gemälde aus Baudouins Besitz, davon 76% Werke niederländischer und flämischer Maler sowie italienische und, schwächer vertreten, einige französische Gemälde. Zeitgenössische Quellen belegen das Bild eines Ensembles, das als ideales Vorbild einer Gemäldesammlung angesehen wurde und deren Meisterwerke bis heute zu den herausragenden Stücken der Eremitage in Sankt Petersburg oder der Calouste-Gulbenkian-Museum in Lissabon gehören.
Das Studium dieser Sammlung – basierend auf der kritischen Ausgabe von Inventaren und verwandten Quellen – stellt ganz grundsätzliche Fragen, etwa nach der Bedeutung der Schulen und damit der wissenschaftshistorischen Funktion des Sammelns auch für die Disziplin der Kunstgeschichte oder nach der sozialhistorischen Funktion privater Kunstsammlungen im 18. Jahrhundert. Sie bietet darüber hinaus Gelegenheit, die Gemengelage von persönlicher Präferenz, politischer Aufgabe und Geschmacksurteil besser zu verstehen, Fragen, die der Erwerb einer Pariser Sammlung durch die Zarin auf dem Höhepunkt ihrer Herrschaft stellt. Ihrer Funktionalisierung im neuen russischen Kontext steht die Praxis in Paris gegenüber, die Bedeutung der Sammlung eines adeligen Offiziers, der sich in die intellektuellen Zirkel der Salons (Mme de Genlis, Mme Geoffrin, die Gesellschaft der Lanturlus und ihrer Tochter der Marquise de la Ferté-Imbault) einschrieb und der zuletzt seine Sammlung an ein europäisches Herrscherhaus verkaufte. Die Ideal-Sammlung Baudouin bietet damit ein herausgehobenes Beispiel, um die Geschichte von Geschmack und Mentalitäten im europäischen 18. Jahrhundert sowohl kunsthistorisch als auch in der Perspektive einer historischen Anthropologie zu verstehen.
Kritische Edition der Inventare Baudouin: Die erste Etappe des Projektes sieht die Etablierung einer kritischen Ausgabe der Inventare samt relevanter zeitgenössischer Quellen vor.
Essay-Band. Ein Essay-Band wird sich u.a. folgenden Aspekten des Phänomens widmen:
Bedeutung und Bedeutungsverschiebungen des Begriffs der »Schulen«
Ideale Sammlung und Proto-Kunstgeschichte
Sammlung und Raumkonzepte
Reproduktionsverfahren zwischen Stichwerk und Kopie
Distributionsstrategien einer Privatsammlung
Zu untersuchende Fonds
Eremitage Sankt Petersburg, Russisches Staatsarchiv Moskau, Puschkin Museum Moskau, Documentation du Musée du Louvre, Paris, Fondation Custodia, Paris, Calouste-Gulbenkian-Museum, Lissabon, INHA Paris, Archives Nationales de France, Paris
Mitarbeit und Kollaborationen
Leitung: Markus A. Castor und Guillaume Nicoud (DFK Paris)
Wissenschaftliche Mitarbeit: Blanche Llaurens, Lara Pitteloud
Koordination extern: Irina Sokolova, Eremitage, Sankt Petersburg
Veröffentlichungen
Markus A. Castor, "Die Kunstsammlung als Inszenierung zwischen Cabinet und Galerie - Die Gemälde der Sammlung Louis-Antoine Crozat im Hôtel d'Evreux, Place Vendôme, Versuch einer Rekonstruktion", in: Comparatio 12, Heft 2 (2020), S. 67-96.
