Anne Weber – Untot und unvergangen: Der Angriff der Virtual Reality auf die Vergangenheit
Vortrag
Anne Weber – Untot und unvergangen: Der Angriff der Virtual Reality auf die Vergangenheit
Unser Verhältnis zum Tod und zur Vergangenheit ist im Begriff, sich grundsätzlich zu ändern. Bislang lebten Tote in unserer Vorstellung und in unseren Träumen fort. Von berühmten Toten aus ferneren Zeiten konnten wir uns mithilfe von Geschichtsbüchern, historischen Romanen und Porträts ein inneres Bild machen. Die Vergangenheit war für uns zweierlei: einerseits eine fremde Welt, die uns letztlich unzugänglich blieb, über die wir aber, wenn wir uns bemühten, einiges in Erfahrung zu bringen vermochten. Andererseits konnte sie – wenngleich auch hier nur, wenn wir einiges Wissen mitbrachten – mithilfe unserer Vorstellungskraft heraufbeschworen und belebt werden.
Wie aber sehen wir die Vergangenheit heute, wie werden wir sie zukünftig betrachten?
In einer virtual reality unterhält sich eine Frau per Video-Call mit ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter; ein 2002 geborener junger Mann schlägt sich tapfer in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Ein anderer unterhält sich mit Napoleon und fragt ihn, was er denn von den heutigen Politikern halte. Die Vergangenheit soll ebenso wie die Toten jederzeit abrufbar sein, sie sollen unserer Gegenwart einverleibt, sollen unser augmented present, unsere erweiterte Gegenwart, unsere allen Platz einnehmende »Jetztzeit« werden. Hinter diesen immer perfekter werdenden Trugbildern stecken nicht nur merkantile Interessen, sondern auch Bemühungen, den Tod und die Vergangenheit zu leugnen, ja, sie abzuschaffen. Wohnt diesen Bestrebungen nicht ein totalitärer Gedanke inne?
Die Vergangenheit, die sich in der Literatur widerspiegelt, ist eine imaginäre, die vor jedem inneren Auge andere Züge annimmt. Sie behält eine Unschärfe, die durch die anhand weniger Anhangspunkte sich öffnende Weite des Vorstellungsspielraums entsteht. Ereignisse der Geschichte per Immersion nachzuerleben, ist hingegen reine Illusion, eine unentrinnbare Einheitswirklichkeit, eine Unterhaltungszwangsjacke.
Bei dem Vortrag handelt es sich um die Vienna Public History Lecture 2025 von Anne Weber am 31. Oktober 2025 an der Universität Wien.
Anne Weber lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Ihr Werk umfasst vielfältige Genres: Übersetzungen, Romane, Reportagen, Hörspiele, Epen und Essays. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis (2020) für Annette, ein Heldinnenepos, dem Preis der Leipziger Buchmesse (2022) für ihre Übersetzung von Cécile Wajsbrots Roman Nevermore sowie dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis (2024) für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschienen ist ihr Buch Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen (Matthes & Seitz, 2024), von ihr ins Französische übersetzt unter dem Titel Neuf-trois. Roman itinérant (Éditions Philippe Rey, 2025).