Blickwechsel #6 – Menschenbild

Blickwechsel #6

Im Rahmen der Serie »Blickwechsel« schreiben Kolleg:innen des DFK Paris im Duo über Wort-Bild-Paare. Die daraus entstehenden Texte können verfolgt werden über www.instagram.com/dfkparis und sind auch hier auf unserer Homepage nachzulesen.

Im sechsten Beitrag von Juli 2025 tauschen sich Markus Castor und Paul Brakmann zu folgendem Wort-Bild-Paar aus:

Menschenbild

François Le Moyne, Narcisse contemplant son reflet dans l’eau, 1725/1728, Paris, Louvre, Inv. RF 1983 78, https://collections.louvre.fr/ark:/53355/cl010063670

Im 18. Jahrhundert entfaltet sich die Vielfalt des Menschenbildes zwischen Abgründen und Menschlichkeit und, pointiert, im Narziss. Das Bild enthält alles, was einen bewegen kann, doch steht alles still. Selbstreflexion setzt für den Augenblick der Erkenntnis das Verharren voraus, dann die unbewegte Oberfläche des Wassers. Die gedoppelte Einbildung des Jünglings im Spiegel des Tümpels ist zugleich diejenige des Bildes. Kann sie Bilder in Dinge hineinsehen, macht sie das zur Imagination, einer der Leitbegriffe des Jahrhunderts. Lässt man sich von der Welt fremdbestimmt zur Heranbildung von Bildern bewegen, passt das deutsche Wort Einbildungskraft viel besser, das just zum Ende der Aufklärung den französischen Sprachgebrauch in Deutschen Landen ablöst.

Lieber Paul, ich bin gespannt auf deine Gedanken zum Bild, das ja im Zentrum unserer Wissenschaft steht und zum Namensgeber einer vermeintlich neuen Disziplin geworden ist.

Dein Markus Castor

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Markus A. Castor

Dr. Markus A. Castor

Directeur de recherches / Responsable des éditions de la coll. Passages Online
Téléphone +33 (0)1 42 60 67 13

Genau wie Alberti, auf den die kunsttheoretische Rahmung der Narziss-Geschichte zurückgeht, blendet Le Moyne den größten Teil der Metamorphose aus und fokussiert gänzlich auf den ikonischen Part der Erzählung. Keine unglückliche Nymphe Echo, die das Motiv der Spiegelung akustisch aufgreift, keine verzweifelte Selbstverletzung des Narziss. Auch die abschließende Verwandlung von Narziss in Narzisse bleibt eine Leerstelle. Aus einer Geschichte, die alle möglichen Formen von Widerspiegelung und Projektion zum Gegenstand hat, wird eine solipsistische Versuchsanordnung, die man entweder moralisch oder eben bildtheoretisch lesen kann. Einbildungen und Imaginationen – man könnte noch Selbstbildungen dazunehmen, wie die Fotografie – finden aber selten so im Vakuum statt. Sie sind vorkodiert und Teil von Diskursen, deren Personal in den seltensten Fällen sichtbar zugegen ist – etwas, das auch die Wissenschaft vom Bild sich immer wieder vor Augen führen muss.

Danke, lieber Markus, für diesen Blickwechsel!

Dein Paul Brakmann